Motto des Schweigens

Gabi kommt mit ihrer Familie aus einem erholsamen Sommerurlaub zurück. Schon während der letzten hundert Kilometer auf der Autobahn beschleicht sie ein Gefühl der Unruhe: „Könnte mich wieder das Gleiche erwarten wie im vergangenen Jahr?“ Tatsächliche Auf ihre Schwiegereltern ist doch wirklich Verlass: Sie haben das schöne Haus nicht nur vor Feuer, Hagel, Sturm und Wassereinbruch während der Abwesenheit „ihrer“ Kinder bewahrt, sondern so ganz nebenbei auch nach dem Rechten gesehen: Da wurden flugs ein paar Blumenstauden umgepflanzt, der Kleiderschrank im Schlafzimmer schrie ja wohl geradezu nach einer ordentlichen Aufräumaktion … Komisch nur, dass bei Schwiegertochter Gabi so gar keine Freude aufkommt. Aber auch sonst kommt kein Laut über ihre Lippen. Auch Tage später kann Gabi zwar kaum ihren Zorn bändigen, aber auch nicht mehr; offene Worte kamen nicht über ihre Lippen.

wegFür das Gespräch mit der Lehrerin ihres zehnjährigen Sohnes hatte Yvonne sich gut gewappnet. Sie hatte um einen Termin gebeten, nachdem es immer wieder Eintragungen ins Mitteilungsheft von Seiten der Lehrerin gab. Aber schon die ersten Sekunden bei der Begrüßung lassen Yvonnes Vorhaben wie Butter in der Sonne schmelzen. Die Klassenlehrerin ihres Sohnes hat so ein selbstsicheres Auftreten, dass sie sich immer wie eine Versagerin, ja, als schlechte Mutter vorkommt. Es fällt ihr so schwer, die richtigen Worte zu finden.

Schon in der Schule war der Vorteil offensichtlich: Der Rücken des Vordermannes war breit, dahinter konnte man sich gut wegducken. Nur nicht auffallen. Immer ohne klare eigene Meinung (zumindest nicht ausgesprochen), nach dem Motto: Wer nichts riskiert, der nichts verliert. Sollen sich doch die anderen den Mund verbrennen. Das ist das Motto des Schweigers, desjenigen, der lieber andere für sich reden lässt. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist für manche Menschen größer als die vor der unangenehmen und unwürdigen Erfahrung, sich im Grunde dauernd zu „verstecken“. Der Gedanke „Wer gar nichts sagt (oder macht), sagt (oder macht) auch nichts Verkehrtes“ scheint zunächst Sicherheit zu geben.

Es gehört zur Selbstachtung, dass wir uns selbst immer wieder positionieren: Was ist mir eigentlich wichtig, wofür möchte ich mich einsetzen und mich riskieren? Wer anderen beim Reden immer den Vortritt lässt und nicht zu seinen Überzeugungen steht, verliert sich selbst aus dem Blick. Sich selbst, das bedeutet: die eigenen Ziele, Bedürfnisse und Wünsche. Für sich selbst und für die, die einem nahe stehen oder anvertraut sind. Die Offenheit, in konfliktträchtige Situationen hineinzugehen – statt sich zurückzuziehen – erfordert Mut, und die Angst vor Ablehnung (das heißt vor Liebesverlust) muss überwunden werden. Schon der Rahmen von Beruf oder Familie bietet dafür ein großes Übungsfeld.